Vortrag von Oebele Vries am Upstalsboom bei Aurich
„Bêste minsken, leve Lüüd,
In Ostfreesland is't am besten. Daran zweifle ich keinen Moment. Dennoch nehme ich Sie zunächst mit nach Flandern. Warum? Weil es dort im Jahre 1323, also im Jahr, das uns heute beschäftigt, zu einem Volksaufstand gegen den Landesherrn, den Grafen von Flandern, kam, ein Aufstand, der häufig als Bauernaufstand bezeichnet wird. Als Gründe für diese erst nach fünf Jahren unterdrückte Erhebung werden unter anderem genannt: Weigerung der Bauern, dem Grafen die Steuer zu bezahlen, und auch Hass gegen den Adel.
Hätten die flämischen Rebellen von den damaligen Verhältnissen in Friesland gewusst, so hätten sie Friesland aller Wahrscheinlichkeit nach als ein Traumland gesehen. Ein Land – oder besser gesagt eine Vielfalt von sich selbst regierenden sogenannten Landesgemeinden – ein Land ohne Grafen, also ohne Landesherrn, ebenfalls ohne feudalen Adel und, vielleicht das Attraktivste von allem, fast ohne Steuern. Denn das Friesland des frühen 14. Jahrhunderts war das Land der Freiheit schlechthin, das Land der Friesischen Freiheit.
Aber Traumländer gibt es nicht. Auch im freien Friesland, dem mittelalterlichen "land of the free", herrschten keine idyllischen Zustände. Apropos, "land of the free", das ist bekanntermaßen ein Zitat aus der Nationalhymne der Vereinigten Staaten, das heißt des neuzeitlichen "Landes der Freien". Keine idyllischen Zustände im freien Friesland also, denn die Friesische Freiheit wurde ständig bedroht, von außen, aber – und das ist für diejenigen unter uns, die die Friesische Freiheit idealisieren möchten, wohl recht peinlich – auch von innen. Von außen durch die benachbarten Landesherren, wie die Grafen von Oldenburg und Holland oder die Bischöfe von Münster und Ütrecht, denen die Herrenlosigkeit der friesischen Länder wie eine verabscheuungswürdige Anomalie vorkam.
Unter diesen Umständen kam es im Jahre 1323, also dem Jahr des flämischen Bauernaufstandes, nicht zur Gründung, sondern zur Wiederbelebung des altehrwürdigen Upstalsboombundes, nachdem dieser Bund ein Dreivierteljahrhundert eher, also um 1250, jämmerlich zusammengebrochen war.
Was wissen wir eigentlich von diesem älteren, letztendlich gescheiterten Upstalsboombund? Wir wissen, dass es hier am Upstalsboomhügel, während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und vielleicht bereits länger, Versammlungen von Richtern, den sogenannten Upstalsboomrichtern, und wohl auch von sonstigen freien Friesen aus den friesischen Seelanden gab. Bekannt ist uns der Text der sogenannten Überküren, der belegt, dass die Zusammenkünfte am Upstalsboom einmal im Jahr stattfanden, und zwar am Pfingstdienstag, und dass dann gemeinsame Rechte festgestellt wurden. Die Überküren belegen weiterhin (zweite Überküre), dass sich die Seelande – ganz wichtig! – zur gegenseitigen Hilfe verpflichtet hatten, und zwar gegen die südlichen Ritter – dass ist wohl eine poetische Bezeichnung für die benachbarten Landesherren mit ihrem feudalen Adelsgefolge – und sogar gegen die schon längst nicht mehr in Friesland wahrgenommenen Wikinger. Laut der dritten Überküre hatten sich die Seelande ebenfalls zur Handhabung von Recht und Ordnung in einem Seeland, wo Anarchie drohte, verbunden.
Was wir nicht mit Sicherheit wissen ist, ob sich sämtliche sieben Seelande an diesem älteren Upstalsboombund beteiligt haben. Die sieben Seelande dehnten sich ja aus vom jetzt nicht mehr existierenden Flüsschen Rekere bei Alkmaar im Westen bis zur Elbe im Osten. Ich werde hier nicht sämtliche Seelande vorstellen, erwähne nur, dass das erste von dem Nordteil der heutigen niederländischen Provinz Nordholland dargestellt wird, und dass irgendwo diesseits der Elbe die fast mythischen Strandfriesen lebten, die – es sei nebenbei bemerkt – lange Zeit unrichtig als Nordfriesen gesehen wurden. Wir gehen jetzt davon aus, dass sich im älteren Upstalsboombund in der Praxis lediglich die Seelande zwischen der Lauwers, also nicht der Rekere, im Westen und der Weser, also nicht der Elbe, im Osten, somit von den Ommelanden bis nach Rüstringen, an diesem älteren Upstalsboombund beteiligt haben.
Und dann jetzt zum Jahre 1323, dem Jahr der Wiederbelebung des Upstalsboombundes. Das erste Seeland, von der Rekere bis zur Südersee, war in der Zwischenzeit bereits einem Landesherrn zur Opfer gefallen, dem Grafen von Holland. Zwei Jahre später nahm der holländische Graf eigenmächtig den zusätzlichen Titel 'Herr von Friesland' an, was wohl ein Programm für die Zukunft enthielt. Und tatsächlich fing er daraufhin an, auch das dann als westlichste übriggebliebene Seeland, das an der Südersee grenzende Westergo, zu bedrohen.
Und nicht ohne Erfolg, denn im Jahr 1310 gelang es ihm, das Westergo zu unterwerfen und von den Richtern und Gemeinden dieses Seelandes als Herr anerkannt zu werden.
Das Vorgehen ihres neuen Herrn, der sofort versuchte auch im Westergo feudale Verhältnisse zu kreieren, gefiel den Westergoern jedoch überhaupt nicht. Und so ergriffen die Richter und auch die Geistlichkeit vom Westergo die Initiative zu einer Wiederbelebung des Upstalsboombundes, und zwar zur Erlangung von Unterstützung gegen den Grafen seitens der noch freien Seelande. Dazu also sollte dem Upstalsboombund nach etwa 75 Jahren neues Leben eingehaucht werden.
Auf die Tätigkeit des wiederbelebten Upstalsboombundes nach 1323 gehe ich hier nicht ein. Ich stelle nur fest, dass auch der erneute Bund jammervoll gescheitert ist. Und zwar bereits nach vier oder fünf Jahren. Für die sonstigen Seelande, so stellte sich bald heraus, war der Angst vor dem Grafen von Holland so groß, dass sie sich aus dem Bund zurückzogen. Ein trauriges Ende! Allerdings wagten es die Friesen vom Westergo, einige Jahre später dem neuen Grafen von Holland die Huldigung zu verweigern, und – was noch mehr sagt – als darauf dieser Graf im Jahre 1345 mit einem stattlichen Ritterheer in das Westergo einfiel, da besiegten sie ihn in einer großen Schlacht, und das ohne Hilfe seitens der Ostfriesen!
Ist die kurze Wiederbelebung des Upstalsboombundes vor genau 700 Jahren für uns jetzt noch wichtig? Im Grunde genommen zeigt sie nur, dass die Friesen nicht imstande waren, eine gewisse Form von Zusammengehörigkeit zu bewahren und weiter auszubauen. Jedoch, für wichtiger halte ich, dass sich im Upstalsboombund, im älteren sowie im wiederbelebten, das mittelalterliche Friesland manifestierte als ein 'land of the free'. Darauf können die Friesen des Jahres 2023 stolz sein. Wie primitiv und fehlerhaft diese mittelalterliche Freiheit in der Praxis auch war.
Den Freiheitsbegriff verbinde ich für unsere Zeit vor allem mit demokratischer Gesinnung. Heute sei demokratische Gesinnung die erste und wichtigste 'Überküre' der Friesen."