Ansprache des Vorstandsmitglieds Paul Kluge anlässlich des Treffens der freien Friesen am Upstalsboom
„Läiwe Landslüe ut Noord-, West-, Sater- un Oostfreesland, willkommene Gäste aus den deutschen und den Niederlanden,"
in früheren Zeiten versammelten sich am Dienstag nach Pfingsten hier am Upstalsboom Vertreter der freien Seelande, um ihre Angelegenheiten zu richten. „Redjeven" hießen sie, Ratgeber, die auf Zeit gewählt waren. Nicht um Urteile ging es – die wurden gelegentlich auch gefällt – sondern um Ordnung, um Frieden. War etwas in Unordnung geraten in den wechselseitigen Beziehungen der freien Seelande, gab es gravierende Schwierigkeiten zwischen einzelnen Landesgemeinden, gab es Bedrohung von außen: Hier war der Ort, in gemeinsamer Beratung Lösungen zu finden, gestörten Rechtsfrieden wieder herzustellen, Gefahren durch die See oder durch Feinde gemeinsam abzuwehren. Dies geschah generell nach einem Prinzip, das heute Subsidiarität genannt wird, und dessen Erfindung sich andere gern auf ihre Fahnen schreiben.
Grundlage der Beratungen war die Rechtsordnung der Friesischen Freiheit, zu Beginn des 9. Jahrhunderts verliehen. Sie gewährte den Friesen ein Maß an Unabhängigkeit und Selbständigkeit, an Eigenverantwortung auch, das es im übrigen Europa nicht gab. In 17 Küren, Gesetzen, war festgehalten, was für alle freien Seelande galt. Sie wurden durch 24 Landrechte ergänzt. Dieses Recht galt für alle gleich, für Reiche wie für Arme, für Einheimische wie für Zugezogene. Es galt auch für ausländische Flüchtlinge, und Leibeigene gab es nicht.
Um 1240 charakterisiert der englische Franziskanermönch Bartholomäus Anglicus die Friesen mit folgenden Worten: „Der Stamm ist nach außen frei, keinem anderen Herrn unterworfen. Für die Freiheit gehen sie in den Tod und wählen lieber den Tod, als dass sie sich mit dem Joch der Knechtschaft belasten ließen. Daher haben sie die militärischen Würden abgeschafft und dulden nicht, dass einige unter ihnen sich mit einem militärischen Rang hervorheben. Sie unterstehen jedoch Richtern, die sie jährlich aus der Mitte wählen, die das Staatswesen unter ihnen ordnen und regeln …".
Dieses Recht galt bis 1498, als der Kaiser Maximilian I Ostfriesland für 300.000 Gulden an Herzog Albrecht von Sachsen abtrat. Man mag bei der Summe an die 30 Silberlinge des Judas denken.
Damit aber war der Grundgedanke der Friesischen Freiheit nicht aus der Welt: Bereits 20 Jahre später lebte er, wenn auch in anderer Form, wieder auf. Als nämlich die reformatorischen Gedanken Luthers und mehr noch Zwinglis das Land erreichten. Zwinglis Schüler Johannes Apportanus, Prediger an der Großen Kirche zu Emden, verbreitete sie nach dem Oldersumer Religionsgespräch von 1526 per Flugblatt.
So wurde Emden zur Mitte des 16. Jahrhunderts ein wichtiger Ort der Reformation. Die Stadt zählte damals zu den größten im Deutschen Reich und hatte den größten Seehafen Europas. Die politische Situation in Ostfriesland und das internationale Gepräge dieser Stadt waren Nährboden für eine große Vielfalt reformatorischer Ansätze. Die Friesische Freiheit hatte die Menschen unabhängiges, eigenständiges Denken gelehrt.
Emden wurde Zufluchtsort religiös Verfolgter und bot einer intellektuellen Elite Asyl. Sie nahmen von hier aus Einfluss auf die Entwicklung der Reformation in anderen europäischen Ländern. Andernorts verbotene Literatur wurde in Emden gedruckt und von dort aus verbreitet. Die Stadt und ihre Kirche wurden zur »Moederkerk« der niederländischen Reformation. Am Ende verwandelte die Reformation Calvinscher Prägung Emden in einen fast autonomen Stadtstaat; die Friesische Freiheit lebte weiter.
Seit kurzem ist Emden die erste Reformationsstadt Europas, und diese Auszeichnung gilt nicht nur den Ost-, sondern genauso den Nord-, West-- und Saterfriesen. Denn in den damals entstandenen Kirchenordnungen – wir würden heute von Gemeindeordnungen sprechen - und bis heute in den Verfassungen reformierter und presbyterianischer Gemeinden und Kirchen finden sich die Grundgedanken der Friesischen Freiheit wieder: Eigenverantwortliche Selbstverwaltung, Subsidiarität und Solidarität, Gleichheit aller.
Das sind menschenwürdige Werte, die vielen vorenthalten werden. Wo sie heute gelten, sind sie jünger als die Friesische Freiheit. An sie zu erinnern, ist nicht Nostalgie, ist keine Verherrlichung vergangener Zeiten. An die Friesische Freiheit zu erinnern, ist Verpflichtung. Wo, zum Beispiel, haben Flüchtlinge gleiche Chancen und gleiche Rechte wie Einheimische!
Rangordnungen und Verordnungen regeln heute das Zusammenleben und machen es nicht unbedingt einfacher. Vielmehr versuchen sie, Eigeninitiative und Eigenverantwortung zu beschneiden. Die Friesische Freiheit bietet Werte, bietet Kriterien, gesellschaftlich gewollte und politisch gesteuerte Entwicklungen zu überprüfen und, wo nötig, gegenzuhalten.
Die Friesische Freiheit hat 700 Jahre offiziell gegolten. Sie hat bei den Menschen eine Mentalität ausgeprägt, die sich bis heute immer wieder zeigt. Vielleicht nicht deutlich genug. Doch die Ideale Friesischer Freiheit sind zu kostbar für ein Nischendasein. Sie gehören gelebt, und es gibt viele Gelegenheiten dazu. Und sie gehören präsentiert. Nicht nur hier am Upstalsboom, der in Bälde entsprechend umgestaltet wird. Die Werte und Ideale der Friesischen Freiheit gehören präsentiert durch die eigene Lebensgestaltung in Gesellschaft und Politik. Dann bleiben sie lebendig und werden auch für andere attraktiv.
„Läiwe Landslüü, willkommene Gäste, wenn wir uns heute an diesem Platz die Friesische Freiheit vergegenwärtigen, dann um auch weiterhin in Freiheit und Gleichheit geschwisterlich zu leben. In diesem Sinne: Eala freya Fresena! Danke."